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Als meine Kinder noch klein waren, wollten Sie Haustiere. Wir kauften Meerschweinchen. Sie wohnten im Zimmer meiner Tochter in einem geräumigen Käfig mit Häuschen, viel Platz zum Laufen und einigen Spielgeräten. Schließlich sollten sie es gemütlich haben und sich bei uns wohl fühlen.

Ich war derjenige, der für Futter und Wasser sorgte und der den Käfig einmal pro Woche säuberte. Ich hob den Käfig hoch und siedelte die Meerschweinchen in einen anderen Käfig um. Die Meerschweinchen waren dann immer aufgeregt und rannten in dem neuen Käfig herum. Ich ging mit dem dreckigen Käfig in den Garten, wo ich mit fließendem Wasser und Bürste nach allen Regeln der Reinigungskunst meine Aufgabe erledigte. Neues Streumaterial rein, Futternapf und Wassertränke befüllen und alles war wieder frisch, so dass ich die Meerschweinchen vom kleinen Ausweichkäfig wieder in den großen Käfig umsiedeln konnte.

Mit der Zeit gewann ich einen gewissen Bezug zu den Tieren und ich bemerkte, dass sie sich über mich unterhielten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Das machte mich neugierig und so traf ich Vorkehrungen, damit ich die Meerschweinchen ungestört bei ihren Unterhaltungen belauschen konnte.

Sie redeten von ihrer Welt, von der sie eine sehr klare Vorstellung hatten. „ER“ bestimmte über alles. Sie nannten ihn ehrfürchtig „ER“ und sie wussten, ohne ihn könnten sie nicht überleben. „ER“ hatte ihre Welt erschaffen. „ER“ sorgte für Wasser und Nahrung. „ER“ war der Herr über Licht und Dunkelheit, über Wärme und Kälte. „ER“ bestimmte, wann sie in der Meist-Welt und wann in der Manchmal-Welt lebten. „ER“ behob ihre Umweltverschmutzung.
Mit „ER“ meinten sie mich.

„ER“ war so groß, dass sie ihn nicht vollständig wahrnehmen konnten. Seine Regungen und Bewegungen waren ihnen gänzlich fremd und vieles konnten sie weder erkennen noch ergründen. Das machte die Faszination, die Mächtigkeit von „ER“ noch gewaltiger. Sie taten alles, um „ER“ günstig zu stimmen. Wenn „ER“ in der Nähe war, unterbrachen sie ihre internen Machtkämpfe, unterließen des Wühlen im Heu und das Verscharren des Futters. „ER“ war jedoch selten da. Meistens waren „andere“ da. „andere“ waren viel kleiner und überhaupt nicht einzuschätzen, aber sie waren beinahe genau so mächtig. „andere“ herrschten ebenfalls über Licht und Dunkelheit, über Wärme und Kälte. „andere“ gaben Futter und Wasser, brachten aber dabei viel Unordnung in die Welt. Sie waren laut und herrschsüchtig. Sie griffen wahllos in die Welt ein. Sie machten Angst.
Wenn „ER“ da war, waren „andere“ mit einem Mal freundlich und lieb. „ER“ war ganz klar der Herr über allem. Der Herr der Welt.

Es war interessant, den Meerschweinchen zuzuhören. Sie führten Aufzeichnungen darüber, wann es hell und wann es dunkel wurde, wann es Futter und Wasser gab, wann die Umweltverschmutzung beseitigt wurde, wann „ER“ da war und wann „andere“ da waren und Chaos verursachten. Sie zeichneten übrigens auch auf, wann ihre Welt wackelte und bemühten sich mit wechselndem Erfolg, dieses Wackeln vorauszusagen. Selbst vom Ende der Meist-Welt hatten sie eine klare Vorstellung. Einer Weissagung zufolge sollte das Zeitenende gekommen sein, wenn 999 Umzüge in die Manchmal-Welt erreicht wären.

Sie stellten Überlegungen an, wer „ER“ war, was „ER“ dachte und fühlte und plante. „ER“ beherrschte die Meist-Welt und die Manchmal-Welt und konnte zwischen den Welten wandern. „ER“ bestimmte über Leben und Tod. „ER“ musste gnädig gestimmt werden. Wenn „ER“ weg war, galt es, seine Abwesenheit mit guten Gedanken zu begleiten und mit ganz bestimmten Ritualen seine Wiederkunft vorzubereiten. Diese Wiederkunft konnte bis auf wenige Ausnahmen genau berechnet werden und man versammelte sich rechtzeitig geputzt und gewaschen am Futternapf, um das Wiedersehensmahl zu feiern. Wenn ich genau hinsah, meinte ich im Inneren ihres Häuschens ein Bild von mir an der Wand hängen zu sehen, vor dem ein Schälchen mit Karottenstückchen und Körnern stand.

So war das Leben, so war diese Welt. Alte Meerschweinchen starben, neue kamen dazu und wurden von den älteren in die Geheimnisse der Welt eingewiesen. „ER“ war allgegenwärtig. Selbst die Ältesten bezeugten, dass er vor ihnen da war. „ER“ war der Herrscher über die Zeiten, er war immer, er war ewig.

Wenn ich mir vorstelle, was wir Menschen über unsere Welt denken, was wir in diese Welt hinein interpretieren, welche Deutungen und Annahmen wir zu verschiedenen Ereignissen und Abläufen erstellen, welche Ansichten und Meinungen wir in Büchern, Zeitschriften und Talkshows vollmundig vertreten, dann erkenne ich starke Parallelitäten zu den Meerschweinchen.