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Jetzt sind die Krawalle beim G20-Gipfel schon wieder ein paar Tage her und die meisten Fragen noch nicht beantwortet: Wer waren die Gewalttätigen? Warum konnten sie nicht früher gestoppt werden? Was muss beim nächsten Mal anders laufen? Für mich kommt aber noch eine andere, für mich die wichtigste aller Fragen hinzu: Was hat das alles am Wochenende für uns zu bedeuten? Für die Antwort auf diese Frage ist mir zunächst egal, welche politische Einstellung die Menschen haben, die Molotow-Cocktails geworfen, Brände gelegt und Scheiben eingeschlagen haben. Mir ist auch egal, ob sie eine schwierige Kindheit hatten oder eigentlich nur zufällig am Wochenende dabei waren. Mir ist wichtig, dass wir verstehen, dass diese paar Menschen sehr viel mit uns allen zu tun haben. Auch wenn wir keine Politiker oder Anwohner in Hamburg sind. Denn ich sehe in diesen Menschen Kinder. Hilflose Kinder unserer Gesellschaft.

Wenn Kinder nicht gesehen werden

Denn wie viele Kinder in einer Familie sind sie auffällig geworden. Sie haben sich laut und zerstörerisch Aufmerksamkeit gesichert. Bei verhaltensauffälligen Kindern in Familien gibt es vor der Gewalt gegen die Mutter, vor dem Weglaufen von Zuhause, vor der Drogenkarriere oder vor dem Stehlen im Supermarkt eine Geschichte. Sie baut sich auf: Kinder haben Bedürfnisse, können sie nicht äußern oder werden nicht gehört. Sie fühlen sich unverstanden und suchen nach Mitteln, sich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie glauben, verdient zu haben. Vieles ist für Kinder ungerecht, weil sie – anders als Erwachsene – Geschehnisse nicht ins große Ganze einordnen können. Wenn sie lange nicht gehört werden, sich nicht beachtet und vor allem ernst genommen fühlen, kann es schlimme Konsequenzen haben.

„Oberungerechtigkeit“ wird zur Gewalt

Ich erinnere mich noch daran, dass ich es als Kind furchtbar ungerecht fand, wenn mein Vater sagte, es sei kein Geld da, mir eine Hose zu kaufen, aber am nächsten Tag stand ein neues Auto in unserer Einfahrt. Ich musste die „Oberungerechtigkeit“, wie ich das damals nannte, frustriert, trotzig und verletzt mit mir selbst ausmachen. Zum Glück standen dieser schmerzhaften Erfahrung viele wunderbare Gegenüber, sodass ich mich trotzdem geliebt und geachtet fühlte und gut mit der „Oberungerechtigkeit“ umgehen konnte. Das geht aber nicht allen Kindern so. Und vor allem nicht den Kindern unserer Gesellschaft, die wir in Hamburg beobachten konnten.

Auch die Gewaltbereiten in Hamburg wurden lange nicht gesehen, sie fühlen sich unverstanden, ungehört und nicht beachtet. Wir sollten also nicht nur unser Augenmerk darauf lenken, die Schuldigen für diese zweifelsohne schlimmen Straftaten hinter Gitter zu schicken, wir sollten dringend hinschauen, ernstnehmen, reden, lösen. Wir haben da ein paar Kinder, die nach Aufmerksamkeit schreien.

Wir müssen versuchen zu verstehen

Und es nicht nur die steinewerfenden und brändelegenden Kinder, die sich nicht anders zu helfen wissen. Es sind auch die Kinder, die mit allen Mitteln Ausländer aus Deutschland verbannen wollen und glauben, im Rechtspopulismus endlich eine Stimme gefunden zu haben. Ja, es ist mühsam, sich dieser Kinder anzunehmen, wenn sie schon das Flüchtlingsheim beschmiert oder den Audi angezündet haben. Es ist schwer, Verständnis für all das aufbringen, aber wir müssen versuchen zu verstehen. Zu verstehen, warum so viele Menschen das Gefühl haben, in unserer Gesellschaft nicht gesehen zu werden. Dabei ist es unerlässlich, sich mit der Würde des Menschen zu beschäftigen. Was sind meine innersten Bedürfnisse, Grenzen und Wünsche? Wie kann ich sie achten? Wer diese Fragen für sich selbst beantworten kann, kann auch würdevoll mit anderen Menschen umgehen. Als Kind habe ich erfahren, wie würdelos es sich anfühlen kann, wenn meine Bedürfnisse missachtet werden. Wenn das Auto wichtiger war als meine Wünsche. Und deshalb habe ich mir vorgenommen, die Würde meiner Kinder zu respektieren und sie als Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen ernst zu nehmen, mag es mir als Erwachsener noch so nichtig und lächerlich vorkommen.

Auf Augenhöhe kommunizieren

Lasst uns mit den verhaltensauffälligen Kindern unserer Gesellschaft genauso würdevoll umgehen. Lasst uns hinschauen, ernst nehmen, verstehen und handeln. Handeln bedeutet nicht, den Staat abzuschaffen, die Polizei ihrer Macht zu entledigen oder Obergrenzen für Flüchtlinge einzuführen, damit die Kinder endlich schweigen. Handeln heißt, Kompromisse finden, sich an einen Tisch setzen und auf Augenhöhe kommunizieren.  Es wird nicht für jeden die perfekte Lösung geben. Aber wer sich ernst genommen und gesehen fühlt, greift zum Demonstrieren nächstes Mal wahrscheinlich zum Pappschild und nicht zum Molotow-Cocktail, weil er seine Würde kennt und die der anderen achten will. Wir haben es in der Hand.

 

Hier ist es N24 gelungen, auf künstlerische Weise zu zeigen, wie wenig die Kinder gesehen wurden: