Wir erleben es in Diskussionsrunden im Fernsehen, bei Podiumsdiskussionen, Parteiveranstaltungen oder auch bei Unterhaltungen im kleinen Kreis. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen und Meinungen von der Welt, in der wir leben. Besonders auffällig ist dabei, dass selbst die hochkarätigsten Experten sehr unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen von ihren angestammten Fachbereichen haben.
Was der eine Ernährungsfachmann sagt, widerlegt der andere.
Was der eine Finanzfachmann sagt, widerlegt der andere.
Was der eine Klimaforscher sagt, widerlegt der andere.
Was der eine Arzt sagt, widerlegt der andere.
Was der eine Klempner, Elektriker, Automechaniker oder Dachdecker sagt, widerlegt der andere.
Lügen sie alle? Sind sie alle eigennützig? Nein, interessanter Weise ist jeder von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt.
Wer stark in seiner eigenen Welt der Bewertungen und Urteile gefangen ist, führt einen erbitterten Kampf gegen all das Andersartige. Wer Tierhaltung für schlecht hält, kämpft dagegen und verficht eine vegetarische Ernährung. Wer chemische Arzneimittel für schlecht hält, kämpft dagegen und verficht die homöopathische Heilweise. Wer die Verbrennung fossiler Energie für schädlich für das Weltklima hält, kämpft dagegen und verficht die Energiewende.
Egal was der Einzelne bekämpft und verficht, er sieht sich immer als Opfer des Systems, weil er und seine Getreuen niemals gegen die ganze Welt ankommen kann. Schnell wird das Kämpfen zum Lebenszweck und führt irgendwann in die Einsamkeit und Resignation. Nicht selten erweitert sich der Kampf gegen die schlechte Welt zu einem Kampf gegen den lieben Gott oder Schöpfer, der das alles zulässt.
„Aber ich muss doch kämpfen, weil ich Recht habe,“ höre ich häufig. Höre ich dem Einzelnen genauer zu, wird mir klar, dass er tatsächlich Recht hat. Ich wundere mich, weshalb die anderen 7 Milliarden Menschen das nicht auch so sehen, bis ich mit einigen anderen aus den 7 Milliarden rede und jedem von ihnen auch Recht geben muss. Jeder hat für sich betrachtet, zu dem Augenblick, aufgrund seiner Weltsicht Recht.
Wir alle wissen, was letztes Jahr richtig war, wurde inzwischen widerlegt. Was letztes Jahr als gesund galt, gilt heute als fragwürdig oder gar schlecht. Was vor zwanzig Jahren operiert wurde, würde heute auf gar keinen Fall operiert. Selbst Kriege, die aufgrund einer tiefen Überzeugung begonnen wurden, haben sich schon als völlig falsch erwiesen. Und Gelehrte wurden schon geköpft, gekreuzigt oder eingesperrt, nur weil sie schneller als die herrschende Meinung es begreifen konnte, auf einen Irrtum hingewiesen hatten.
Was heute groß und teuer beworben wird, erweist sich morgen als wirkungslos. Was man früher als richtig erachtet hatte, erweist sich heute als Bumerang. Dies kann ein Arzneimittel sein, das gesundheitliche Schäden bewirkte, dies kann auch eine Jungendsünde sein, die 30 Jahre später abrupt zum Ende der beruflichen Karriere führt.
Das alles sind Auswirkungen unserer Bewertungen, unserer Ansichten und Meinungen wie die Welt ist oder sein sollte. Dahinter steht die große Angst, dass die Welt anders ist, als man denkt. Man verteidigt seine Weltsicht und damit auch seine eigene Existenz, weil man sich als Person mit seiner Weltsicht gleichsetzt. Die Lautesten und Bissigsten setzen sich durch, nicht die Klügsten. Deshalb ist die herrschende Meinung immer ein wenig suboptimal.
Ein Schritt zur Erleuchtung ist, all die vielen Möglichkeiten des Lebens, all die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt anzunehmen. Weshalb sollte meine Weltsicht besser sein als die der anderen Menschen? Weshalb sollte der Schöpfer eine Welt in Gang gesetzt haben, die schlecht und sinnlos ist? Der Weg für den Einzelnen ist, die vielen, verschiedenen Weltsichten der Anderen genauso zu achten und zu respektieren wie die eigene und daraus eine erweiterte Vorstellung vom Dasein zu gewinnen. Für den Einzelnen ist das spannend, für die mit Karacho hierhin und dorthin rennende Gesellschaft ist es allerdings eher langweilig.